Lilly Goldreich war ein Mordopfer. Ihre außereheliche Beziehung mit einem Italiener endete für sie tödlich.
Herkunft und Familie
Lilly Goldreich wurde am 28.3.1897 als erstes Kind einer jüdischen Familie in Wien geboren. Der Vater Sigmund Schnabel (1864-1914) war Trödler und Antiquitätenhändler. Er stammte aus Wien-Fünfhaus. Ihre Mutter Elsa Meerholz (1877-1941) war im Alter von nur 4 Jahren Vollwaise geworden. Ihre Eltern Nathan Meerholz (1839-1881) und Cäcilie Schreyer (1848-1881) starben beim Brand des Ringtheaterbrandes am 8.12.1881.
Nach ihrer Hochzeit am 4.6.1896 zogen Elsa und Sigmund in eine Wohnung im 1. Bezirk, in der Nibelungengasse 13. Elsa unterstützte ihren Ehemann auch in seinem Betrieb.
Als Lillys Schwesterchen Paula (*1899) zur Welt kam, wohnte die Familie schon in der Krugerstraße 15. Der Betrieb des Vaters befand sich im 1. Bezirk, am Lobkowitzplatz 3.
Im Juni 1914 starb Sigmund Schnabel im Alter von nur 49 Jahren an einem Blasenkatarrh. Die Familie wohnte zu der Zeit in der Fichtegasse 5. Nach dem Tod ihres Mannes führte Elsa das Geschäft weiter.
1918 heiratete Lilly Goldreich den um einiges älteren Rechtsanwalt Dr. Theodor Goldreich (1880-1954). Die beiden wohnten dann im 4. Bezirk, in der Großen Neugasse 32. Das Paar blieb kinderlos.
Theodor war Anwalt, der sich besonders in Automobilkreisen großer Bekanntheit erfreute. Er war z.B. auch Clubanwalt des Österreichischen Touringklubs und Rechtskonsulent des Harley Davidson Clubs. Theodor hielt zahlreiche öffentliche Vorträge zu juristischen Themen. Die Goldreichs waren bekannte Mitglieder der „Wiener Gesellschaft“. Lilly war sehr sportlich. Sie betätigte sich vor allem als Sportreiterin.
Lillys Mutter Elsa heiratete 1924 im Stadttempel in Wien ihren 2. Ehemann Moriz Paunzen. Er war Kaufmann und Hoflieferant. Die Eheleute wohnten im 1. Wiener Bezirk in der Marc Aurelstraße 5.
Gefährliche Liebschaft
Dr. Theodor Goldreich war oft unterwegs. Auf seinen Reisen begleitete ihn meist auch seine Frau Lilly. 1934 urlaubte das Ehepaar in Seefeld. Dort lernten sie einen Italiener kennen. Dieser machte sich laut Dr. Goldreich regelrecht an seine Frau heran. Auf einer späteren Romreise stellte der Ehemann fest, dass dieser Italiener schon wieder ihre Wege kreuzte. Theodor machte seiner Frau eindeutig klar, was er von dem Verehrer hielt: „Der muss weg!“ lautete seine Anweisung.
Bei dem Süditaliener handelte es sich um den vermögenden, 55jährigen Südfruchthändler Domenico Perotti (*1879) aus Salerno. Er war ebenfalls verheiratet und Vater von 8 Kindern. Er hatte sich auf den ersten Blick in die schöne Rechtsanwaltsgattin verliebt. Auch Lilly Goldreich dürfte von dem Mann mit den markanten italienischen Zügen und den leicht angegrauten Haaren fasziniert gewesen sein. Und so fingen die beiden eine Liebschaft an. Perotti wohnte teils in Salerno, teils in Rom, kam aber oft nach Wien. Um seiner Angebeteten nahe sein zu können, versuchte er auch geschäftlich in Wien Fuß zu fassen. Perotti überschüttete Lilly Goldreich mit teuren Geschenken. Auch auf diversen Reisen folgte er Lilly Goldreich. Perotti investierte schließlich sein ganzes Vermögen in diese Beziehung und hoffte dadurch Lilly Goldreich noch inniger an sich zu binden. Dabei vernachlässigte er immer mehr seine geschäftlichen Verpflichtungen. Als seine Kinder von der Affäre Wind bekamen, brachen sie mit dem Vater. Kurze Zeit danach wurde Perotti auch geschäftlich zahlungsunfähig.
Perotti versuchte nun in verschiedenen Städten ein neues Geschäft aufzubauen. Anfang 1937 kam er wieder nach Wien. Allerdings fiel sein Besuch diesmal wesentlich sparsamer aus. Anstatt wie sonst in einem Nobelhotel abzusteigen, wohnte er im 4. Bezirk in der Viktorgasse 16 zur Untermiete. Er holte Lilly Goldreich von der Turracherhöhe ab, wo sie 14 Tage zum Schifahren gewesen war. Doch mit Perottis Vermögen schein auch Lillys Liebe geschwunden zu sein. Ihr Liebhaber langweilte sie inzwischen und sie zog sich immer mehr zurück. Einem Geschäftsfreund gegenüber schüttete Perotti sein Herz aus. Er habe für Lilly Goldreich sein Vermögen geopfert und nun wolle sie nichts mehr von ihm wissen. Er deutete auch Selbstmordabsichten an. Schließlich lieh er sich etwas Geld und kaufte sich davon einen Trommelrevolver.
Immer öfter lauerte er Lilly Goldreich auf oder stand stundenlang vor ihrem Haus. Lillys Ehemann hat von all dem angeblich nie etwas mitbekommen.
Am Freitag, den 26. Jänner 1937 besuchte Lilly Goldreich ihren Geliebten das letzte Mal. Als sie am nächsten Tag in eine Bar in der inneren Stadt ging, wartete Perotti vor der Bar auf sie und begleitete sie dann in das Stadtkassehaus. Dort war Dr. Theodor Goldreich bei seiner Bridgepartie. Lilly war mit Perotti für den Sonntag verabredet, sagte ihm aber am Samstag kurzerhand ab. Sie offenbarte ihm, dass sie keine Zeit mehr für ihn hätte. Wie schon oft, machte Perotti der jungen Frau eine gewaltige Eifersuchtsszene. Ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte sich Lilly Goldreich anvertraut und erzählt, dass sie befürchte der eifersüchtige Italiener könne ihr etwas antun.
Tod und letzte Ruhestätte
Am Sonntag den 28.2.1937 fand diese ehemals heißblütige Liebe dann ihren tragischen Höhepunkt. Perotti lauerte Lilly vor dem Haus der Goldreichs auf. Als Lilly das Haus verließ, folgte er ihr bis zum Stadtpark und ließ sich nicht mehr abschütteln. Er bettelte solange, bis Lilly 2 Karten für die 5-Uhr-Vorstellung im Elite-Kino in der Wollzeile kaufte. Dort wollten sie sich treffen. Als Dr. Theodor Goldreich nachmittags ins Kaffeehaus ging, machte sich Lilly auf den Weg ins Kino. Nach der Vorstellung wollte sie ihren Ehemann aus dem Cafe abholen.
Im Kino spielte es „Rausch einer Nacht“. Während der Vorstellung wehrte Lilly alle Annäherungsversuche Perottis ab und ließ ihn abblitzen. Als sie nach der Vorstellung über die Stubenbastei gingen, fragte der Italiener Lilly, warum sie ihn so lieblos behandeln würde. Sie soll ihm barsch geantwortet haben: „Geh, laß mich in Ruh', wenn du mich nicht in Ruh' läßt, geh' ich zur Polizei und lass' dich verhaften." Auf diese Äußerung geriet Perotti derart in Rage, dass er seinen Revolver zog und auf Lilly schoss. Der erste Schuss durchbohrte ihren rechten Unterarm, der zweite traf sie auf der linken Brustseite. Die Kugel drang in ihren Körper ein und zerriss die Hauptschlagader. Das tödlich getroffene Opfer versuchte noch zu fliehen. Perotti folgte Lilly und feuerte weitere 3 Schüsse ab, die sie allerdings verfehlten. Zwei Chauffeure, die unweit vom Geschehen ihren Taxistandplatz hatten und ein weiterer Passant, griffen unerschrocken in das Geschehen ein. Inzwischen richtete Perotti die Waffe gegen sich selbst. Allerdings waren keine Patronen mehr im Revolver.
Die Passanten konnten den Täter überwältigen und schleppten ihn über die Straße. Dort warfen sie ihn zu Boden, traten ihn mit Füßen und schlugen ihn krankenhausreif. Als die Polizei eintraf, hatte sie Mühe, den Täter vor der wütenden Menge zu retten. Lilly Goldreich war inzwischen an ihren Verletzungen verstorben. Sie war nur 38 Jahre alt geworden.
Nach einer gerichtlich angeordneten Obduktion wurde Lilly Goldreich im Grab ihres Vaters, Sigmund Schnabel, im alten jüdischen Teil des Zentralfriedhofs, Gruppe 51/18/91 bestattet. Das ist direkt an der Friedhofsmauer, in der Nähe von Tor 11. Lillys Name, ist allerdings auf dem Grabstein nicht zu finden.
Nach dem Tod von Lilly Goldreich stahl die Hausgehilfin Anna Kicker etliche Pelze und Kleidung der Verstorbenen. Als sie nach und nach versuchte, das Diebesgut in Versatzanstalten zu Geld zu machen, wurde sie von der Polizei verhaftet.
Das Schicksal der restlichen Personen
Domenico Perotti wurde vor ein Schwurgericht gestellt. Obwohl sein Verteidiger auf Totschlag plädierte, wurde er wegen Mordes angeklagt. Seine Strafe fiel allerdings relativ glimpflich aus. Sie bewegte sich im unteren Bereich des Strafrahmens. Perotti wurde im August 1937 zu 10 Jahren schweren Kerker verurteilt. Die Strafe verbüßte er in der Strafanstalt Stein. Doch schon nach 5 Jahren wurde er vorzeitig wieder in die Freiheit entlassen. Domenico Perotti kehrte dann in seine italienische Heimat zurück, wo sich seine Spur verliert.
Lillys Mutter Elsa Paunzen (1877-1941) wurde während des 2. Weltkrieges am 15.10.1941 mit dem Transport 6, Zug Da 1 von Wien nach Lodz in Polen deportiert. Elsa wurde in der Schoah ermordert. Auch einige Cousinen und Cousins von Lilly Goldreich wurden in Auschwitz getötet. Über den Verbleib von Elsas 2. Ehemann Moriz Paunzen ist ebenso wenig bekannt, wie über den Verbleib ihrer Tochter Paula.
Dr. Theodor Goldreich arbeitete weiter als Anwalt. Er starb 1954 im Alter von 74 Jahren. Seine sterblichen Überreste wurden eingeäschert und die Urne am 5. August 1954 bei der Feuerhalle Simmering bestattet. Das Grab befindet sich in der Abteilung 6, Ring 3, Gruppe 3, Grab Nr. 38. Dort waren bereits die Urnen von Hermann Goldreich (+1939) und Dr. Arthur Goldreich (+6.12.1937) zur letzten Ruhe gebettet worden. Dr. Arthur Goldreich war Chefarzt des Wiener Bankvereins und Abteilungsvorstand des 1. Öffentlichen Kinderkrankenhauses gewesen, bevor er im Alter von 65 Jahren starb.
Lillys Großeltern väterlicherseits waren Israel Schnabel (1833-1901) und Betti Schnabel geb. Soffer (1841-1910). Die Großmutter stammte aus Pressburg. Die beiden hatten 3 Söhne und 4 Töchter.
- Samuel (*1860)
- Leopold (1862-1911)
- Henriette (*1863) ⚭ Jefim Heinrich Efron (*1862)
- Sigmund (1864-1914) ⚭ Elsa Paunzen (1877-1941)
- Rosa (*1866) ⚭ Alexander Wengraf (1864-1907)
- Emma (1870-1929) ⚭ Ludwig Schossberger (1860-1918)
-
Malvine (1878-1931) ⚭ Moriz Fleischer (1876-1942)
Israel und Betti fanden ihre letzte Ruhestätte am alten jüdischen Friedhof des Zentralfriedhofs beim Tor 1 in der Gruppe 20/11/98. Das Grab befindet sich ungefähr auf halbem Weg zwischen Tor 1 und Tor 11.
Bildquellen:
- Geburtsanzeige Lilly Goldreich:
- Parte Sigmund Schnabel: Geni
- Lilly Goldreich:
- Domenico Perotti:
- Zeichnung Mordgeschehen:
- Grab Sigmund Schnabel und Lilly Goldreich: © Karin Kiradi
- Domenico Perotti vor Gericht: "Das interessante Blatt" v. 17. Juni 1937: Anno ONB
- Grab v. Dr. Theodor Goldreich: © Karin Kiradi
Quellen:
- Almanach der Verbrecher
- „Wiener Kriminalchronik“ v. Max Edelbacher, Harald Seyrl, Edition S v. 1993
- E-Book "Halbseidenes dunkles Wien" von Günther Zäuner
- "Der Montag" v. 1. März 1937, Seite 1-2: Anno ONB
- "Der Tag" v. 1. März 1937, Seite 2: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 2. März 1937, Seite 8: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 3. März 1937, Seite 21: Anno ONB
- "Der Tag" v. 6. März 1937, Seite 5: Anno ONB
- "Salzburger Volksblatt" v. 11. März 1937, Seite 7: Anno ONB
- "Die Stunde" v. 20. März 1937, Seite 10: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 20. April 1937, Seite 23: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 12. Mai 1937, Seite 22: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 27. Mai 1937, Seite 14: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 11. Juni 1937, Seite 21: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 12. Juni 1937, Seite 12: Anno ONB
- "Die Stunde" v. 12. Juni 1937, Seite 3: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 14. August 1937, Seite 10: Anno ONB
- "Der Tag" v. 15. November 1937, Seite 2: Anno ONB
- "Der Montag" v. 15. November 1937, Seite 3: Anno ONB
- "Neues Wiener Tagblatt" v. 21. Januar 1938: Seite 13: Anno ONB
- "Das Motorrad" v. 15. Februar 1935, Seite 37: Anno ONB
- Friedhofsdatenbank der IKG
- Verstorbenensuche Friedhöfe Wien
- Geni
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Kerstin (Montag, 02 Januar 2023 14:17)
Liebe Karin,
dies ist wieder ein interessanter und gut recherchierter Beitrag, der spannend zu lesen ist! Das Leben schreibt unglaubliche Geschichten!
Herbert Resetarits (Montag, 02 Januar 2023 17:27)
Wieder ein sehr interessanter Beitrag. Hoffe es folgen noch viele. Ich wünsche ein gutes Jahr 2023.
G.Steindl (Dienstag, 03 Januar 2023 12:30)
hallo Karin, danke, dass du so viel Zeit investierst um uns immer wieder mit neuen Lebensgeschichten zu unterhalten :-)