"Tot ist nur, wer vergessen ist" (Immanuel Kant)
Der Wiener Zentralfriedhof ist wohl jedem Wiener und jeder Wienerin ein Begriff. Aber die meisten wissen nichts bis wenig über die Geschichte dieses Friedhofs. Auch Du gehörst du dieser Gruppe? Das kannst Du jetzt hier ändern. Ich erzähle dir gerne einiges Wissenswerte über die Entstehung dieses Ortes. Ich selbst war unzählige Male am Friedhof, bis ich begann, mich für die Geschichte dieses Ortes und auch für seine "Bewohner" zu interessieren. Immer tiefer zog mich die Materie in ihren Bann. Heute bin ich ein großer Fan des Friedhofs und versuche meine Begeisterung auch an andere weiterzugeben.
Vorgeschichte
2015 verließen mehr als eine Million Menschen ihre Heimat, weil sie dort von Krieg und Terror bedroht waren. Betroffen waren vor allem Bewohner in Syrien, Afghanistan, Iran und dem Irak. Viele entschlossen sich, in der EU Schutz und Zuflucht zu suchen. Asyl konnten sie aber nur in den jeweiligen Zielländern stellen. Um dorthin zu kommen, hätten sie aber ein gültiges Visum benötigt. Da die meisten diese nicht bekamen, versuchten sie, auf den unterschiedlichsten Wegen ihr Ziel zu erreichen. Viele von ihnen wählten den Weg über das Mittelmeer. Dabei fanden ca. 4.000 Personen den Tod. Andere kamen über die sogenannte Balkan-Route. Egal welchen Weg sie einschlugen, auf der weiten Reise nahmen die meisten von ihnen die Hilfe von Schleppern in Anspruch. Ihnen zahlten sie Unsummen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in einem unbekannten Land. Die Schlepper organisierten sich in einem weitverzweigten Netzwerk und schlugen aus dem Leid und der Verzweiflung der betroffenen Menschen Kapital. Diesen Menschen vertrauten die Flüchtenden in letzter Konsequenz auch ihr Leben an. Die Mitglieder der Schlepperbanden waren äußerst risikofreudig. Vielfach verhielten sie sich allerdings auch gegenüber ihren Kunden skrupellos.
Das tragische Ende von 71 Flüchtlingen
In der Nacht vom 25. auf den 26. August saßen viele Flüchtlinge im Wald bei Domaszék und warteten auf ihren Weitertransport. Eine Woche zuvor hatte ein Mann bei einem Gebrauchtwagenhändler in Kecskemét einen Kühllaster gekauft. Der Käufer gehörte zu einer Schleppergruppe, die bereits unzählige Schleppungen organisiert und durchgeführt hatte. Mit diesem LKW wollten sie ihr Geschäft noch lukrativer gestalten. Es waren insgesamt elf Männer, die aus Afghanistan, Bulgarien und dem Libanon stammten. Vier von ihnen starteten am 26. August um ca. 4 Uhr morgens mit dem LKW in Kecskemét und fuhren nach Domaczék, um dort ihre kostbare Fracht zu verladen. Diese Fuhre würde ihnen viel Geld einbringen.
Kurz vor 5 Uhr früh bestiegen 71 Menschen auf Anweisung der Schlepper den Kühllaster. Eigentlich war ihnen versprochen worden, in einem PKW transportiert zu werden. Doch nun wurden sie gedrängt, in dieses Gefährt zu steigen, dessen Laderaum eine Länge von sechs Metern und eine Breite von 2,15 Metern hatte. Damit mussten auf einem m² ca. fünf Personen Platz finden. Sie mussten demnach dicht gedrängt stehen. Es gab keine Möglichkeit, sich hinzusetzen oder irgendwo anzuhalten. Möglicherweise halfen die Schlepper beim Einsteigen auch unsanft nach. Die meisten Flüchtlinge hatten sich vorher nicht gekannt. Es waren 59 Männer, 8 Frauen und 4 Kinder. Das jüngste Kind war erst 11 Monate alt. 21 kamen aus Afghanistan, 29 aus dem Irak, 15 aus Syrien und 5 aus dem Iran. Von einem Mann weiß man nicht, woher er stammte.
Die Schlepper verriegelten den LKW von außen. Die Kühlung funktionierte in diesem Gefährt nicht mehr. Die Türen waren mit Gummidichtungen versehen und schlossen daher luftdicht ab. Es gab keine Fenster und das Fahrzeug ließ sich von innen nicht öffnen. Den Wagen steuerte der Bulgare Ivajlo S. Die Schlepper eskortierten den LKW auf der Autobahn mit drei Autos. Sie hielten Ausschau nach Polizeikontrollen, um den Lenker rechtzeitig zu warnen. Sollte es zu Problemen kommen, wäre durch sie auch die rasche Flucht des Fahrers gewährleistet gewesen. Sie passierten um ca. 6 Uhr Kecskemét und um 8 Uhr Budapest. Zu diesem Zeitpunkt waren die 71 Passagiere aller Wahrscheinlichkeit nach bereits tot.
Die ungarischen Behörden hatten diese Schlepper schon längere Zeit im Visier und hörten auch ihre Telefonate ab. Sie werteten die Mitschnitte aber viel zu spät aus. Hätten sie die Gespräche sofort übersetzt, hätten sie vermutlich noch rechtzeitig einschreiten können. Aus den Aufzeichnungen ließ sich später nur mehr der Hergang des Unglücks rekonstruieren. Bereits 35 Minuten nach der Abfahrt unterhielten sich die Schlepper darüber, dass die Flüchtlinge im Laderaum laut klopfen würden. Zu diesem Zeitpunkt waren vermutlich viele schon in Todesangst. Die Männer dürften versucht haben, die Gummidichtungen zu zerstören, um eine Belüftung zu ermöglichen. Sie probierten vergeblich, aus ihrem metallenen Gefängnis auszubrechen und die Tür aufzutreten. Doch der Laster hatte eine dicke Aussenhaut. Gegen 6 Uhr konstatierte der Fahrer, dass das Klopfen immer panischer und lauter wurde. Um 6:10 Uhr meldete der Fahrer an seine Komplizen: "Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien." Zuerst überlegten die Männer noch, wie sie den Menschen Wasser geben könnten. Doch sie hatten Angst, den Laderaum zu öffnen, da ansonsten alle hinausstürmen würden. Also beschlossen sie, weiterzufahren. Als sie realisierten, dass die Menschen im Laderaum wahrscheinlich keine Luft bekamen, gab der Drahtzieher der Bande folgende Anweisung: "Das geht nicht, dass er die Tür aufmacht! Wenn er die Tür aufmacht, werden alle rauskommen! Sag ihm, er soll nur weiterfahren. Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen.“
Gerichtsmediziner gehen davon aus, dass die meisten Gefangenen im LKW zwischen 4:45 Uhr und 6:50 Uhr gestorben sind. Der Transporter überquerte um 9.16 Uhr die österreichische Grenze bei Nickelsdorf. Zu diesem Zeitpunkt war es im Laderaum bereits still, alle Passagiere längst tot. Um 9.40 Uhr stellte der Fahrer den LKW in einer Pannenbucht bei Parndorf ab und stieg in eines der Begleitfahrzeuge um. Vermutlich hatten die Männer realisiert, dass ihre Fracht verloren war. Den Laster mit den 71 toten Menschen ließen sie einfach zurück.
Bergung der Toten und ihre Identifizierung